Düsseldorf. Als »Eckpfeiler unseres Sozialsystems« sieht NRW-Ministerpräsidentin Han-nelore Kraft die Freie Wohlfahrtspflege. Entscheidend habe sie in den letzten 50 Jahren die Weiterentwicklung der sozialen Arbeit im Land vorangetrieben, erklärte sie bei der Ju-biläumsfeier am Freitag in der Synagoge der Jüdischen Kultusgemeinde in Düsseldorf. Selbst versteht sich die Interessenvertretung der 17 Spitzenverbände der Wohlfahrts-verbände als »soziales Gewissen«, wie der LAG-Vorsitzende Andreas Meiwes, sagte. Sie sei aber auch ein wirtschaftlicher Faktor mit ihren 500.000 hauptamtlichen und ebenso vielen ehrenamtlichen Mitarbeitern, die eine große Vielfalt an sozialen Dienstleistungen anbiete. Jeder Nordrhein-Westfale komme mit ihnen meist mehrfach im Leben in Berüh-rung, so Meiwes.
Ohne die Arbeit der Wohlfahrtsverbände hält Ministerpräsidentin Kraft »unsere Gesell-schaft für nicht funktionsfähig«. Sie versprach seitens der Landesregierung eine verläss-liche Grundlage dafür und forderte die Vertreter der Verbände auf, weiterhin »Stachel im Fleisch« zu sein. In einer kritisch-konstruktiven Zusammenarbeit möchte sie den »Dialog über eine nachhaltige Sozialarbeit fortsetzen«. Die Landesregierung fühle sich dabei ver-pflichtet, stärker vorbeugend zu arbeiten. Besser sei es, jetzt in die Jugend zu investieren, statt später umso mehr zu bezahlen.
Als »Herkulesaufgabe«, die gemeinsam geschultert werden müsse, bezeichnete Kraft das Bemühen, Menschen mit Behinderung besser in die Gesellschaft zu integrieren. Voraus-setzung dafür sei »barrierefreies Denken« aller Beteiligten.
Dass die Freie Wohlfahrtspflege sich immer wieder den veränderten Herausforderungen gestellt hat, zeigte Meiwes, der Diözesan-Caritasdirektor in Essen ist, auf. Gebildet habe sie sich in der von Kriegen und Verwerfungen der Industrialisierung geprägten Mitte des 19. Jahrhunderts als »Zusammenfassung privater Hilfsvereine«. Von dem traditionellen Begriff »Wohlfahrt« solle man sich nicht täuschen lassen, erklärte Meiwes: »Die Freie Wohlfahrtspflege ist modern, sie ist professionell, ehrenamtlich und freiwillig engagiert, sie ist innovativ.« 500.000 hauptamtliche und ebenso viele ehrenamtliche Mitarbeiter stünden für die vielfältigen sozialen Dienstleistungen von der Tageseinrichtung für Kinder über Be-ratung und Hilfen für Menschen mit Behinderungen bis zu Krankenhäusern, Altenheimen und Hospizen.
Großen Wert legte Meiwes auf den Begriff »Frei«. Unabhängig von staatlicher Bevormun-dung könnten die Wohlfahrtsverbände ihre Arbeit leisten. Sie sei »anwaltschaftlicher Inte-ressenvertreter für benachteiligte Menschen« und »Solidaritätsstifter«. So unterschiedlich die sechs in ihr vertretenen Verbandsgruppen von ihrer Herkunft aus der Arbeiterbewe-gung wie die AWO oder der Kirche wie Diakonie und Caritas seien, »gemeinsam ist allen die grundsätzliche Wertegebundenheit«. Unabhängig von »Markt und Marktversagen« sei die Freie Wohlfahrtspflege »gleichsam das soziale Gewissen des Landes«, sagte der Vor-sitzende. Dabei arbeite sie dennoch unter den »realen Bedingungen von Ökonomie und politischen Rahmenbedingungen«.
Als einen »unverzichtbaren Teil des deutschen Sozialmodells« sah Prof. em. Dr. Dr. Karl Gabriel vom Institut für Christliche Sozialwissenschaft der Universität Münster in seinem Festvortrag die Wohlfahrtsverbände in Deutschland. Noch vor kurzem habe man im Über-schwang des Marktliberalismus sie als überholt darzustellen versucht. Nach der Wirt-schaftskrise sei es jetzt »deutlich stiller« geworden. Dieses in Europa und weltweit einzig-artige deutsche Sozialmodell der Subsidiarität, in dem der Staat sich auf seine Kernaufga-ben beschränke, zeichne sich aus durch »Vielfalt und sozialen Ausgleich«. Im dritten Sek-tor des Marktes seien die Wohlfahrtsverbände im »sozialen Raum zwischen Familie, Staat und Markt« tätig, so Gabriel. Sie seien nicht gewinnorientiert, sondern ihre Effizienz messe sich am Wohl des Anderen.
Historisch bewährt sah Gabriel den Zusammenschluss der Verbände, der heute gewis-sermaßen »Goldene Hochzeit« feiere: »In guten und in schlechten Zeiten sind sie in den letzten 50 Jahren zusammengeblieben.« Dieses Modell gelte es, »bewusst weiter zu entwi-ckeln«. Konkret forderte Gabriel die Freie Wohlfahrtspflege NRW auf, ihre Bemühungen zu intensivieren, »die Soziale Arbeit der Moscheegemeinden als siebten Wohlfahrtsverband in ihre Reihen aufzunehmen«. Das wäre auch ein »wichtiger Schritt auf dem Weg der Integra-tion der muslimischen Mitbürger in NRW«.
Verstärkt werden muss nach Ansicht von Gabriel die anwaltschaftliche Positionierung der Freien Wohlfahrtspflege gegenüber Politik und Wirtschaft. Die Kampagnen »NRW bleibt sozial« in 2003 und 2006 seien ein guter Anfang gewesen, »den es auszubauen gilt.« Nur wenn die Verbände hier zusammenstünden und die Dringlichkeit dieser Aufgabe erken-nen, »wird das Sozialmodell der Vielfalt und des sozialen Ausgleichs eine Zukunft haben«, sagte Gabriel. Von Staat und Kommunen forderte er, die eigenständige Rolle der Wohl-fahrtsverbände zu respektieren.
6. Mai 2011