Wohnungs- und Obdachlosigkeit kann viele Ursachen haben, die in der Regel miteinander verwoben sind und sich gegenseitig beeinflussen. Deshalb ist es seit jeher richtig und wichtig, sie sowohl mit wohnungs- als auch mit sozialpolitischen Maßnahmen anzugehen. Aus diesem Verständnis der unterschiedlichen Bedarfe von wohnungs- bzw. obdachlosen Menschen hat sich in Deutschland ein differenziertes Hilfesystem entwickelt, das sich immer wieder selbst überprüft und neu an wandelnde Bedarfe anpasst. Der überarbeitete Landesrahmenvertrag kann Rechts- und Planungssicherheit für ein weiter bedarfsgerechtes Hilfesystem bieten, wenn alle Beteiligten die gebotenen Spielräume im Sinne der wohnungslosen Menschen nutzen.
Der methodische Hilfeansatz von „Housing First“ ist in diesem Hilfesystem somit ein Baustein für die im Antrag beschriebene kleine Zielgruppe der sog. „high-need-clients“ in Ergänzungen der anderen Angebote der Wohnungslosenhilfe. Einige Housing First-Leitgedanken finden sich auch in Konzepten der etablierten Angebote der ambulanten Hilfe in Wohnungen gemäß §67 SGB XII wieder. Die bestehende Refinanzierungssystematik erschwert zurzeit die Nutzung dieser bestehenden Hilfestrukturen für den Housing First-Ansatz und grundsätzlich für personenzentrierte Hilfeformen. Deshalb sieht auch die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege NRW an dieser Stelle Flexibilisierungsbedarf und wünscht sich mehr Offenheit seitens der Leistungsträger für eine flexiblere Refinanzierungssystematik, um eine sozialpolitische Implementierung bzw. Verankerung und eine Durchlässigkeit im gesamten Hilfesystem für alle obdach- und wohnungslosen Menschen zu ermöglichen.
Es muss aber betont werden, dass eine ausreichende Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum absolute Grundlage für jede erfolgreiche Unterstützung von wohnungs- und obdachlosen Menschen und die Überwindung von Wohnungslosigkeit bleibt. Das gilt für die Angebote des Housing First-Ansatzes wie für alle anderen Angebote der Wohnungslosenhilfe.
Die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege NRW erkennt die Bemühungen der Landesregierung an, mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und die Weiterentwicklung der Angebote der Wohnungslosenhilfe zu unterstützen. Insbesondere die Landesinitiative „Endlich ein Zuhause“ ist bundesweit als vorbildlich zu betrachten. Es gilt nun, zügig in Kooperation von Landschaftsverbänden, Kommunen und Trägern die Möglichkeiten für eine regelhafte Finanzierung im o. g. Landesrahmenvertrag zur Verstetigung und zum Ausbau von sog. „Kümmerer-Projekten“ zu nutzen, um deren Erfolge zu sichern. In diesen, wie auch in Projekten des Housing First-Ansatzes, besteht wegen der massiven Wohnraumknappheit allerdings die Gefahr eines sog. „Creamings“: Vermieter schließen Mietverhältnisse für akquirierte Wohnungen nur noch mit Personen mit vermeintlich wenigen Vermittlungshemmnissen.
Es besteht ein extremes Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt. Angesichts des erreichten und weiter zu erwartenden Ausmaßes an Wohnraummangel werden also für alle wohnungs- und obdachlosen Menschen wohnungspolitische Ressourcen auf allen föderalen Ebenen in die Hand zu nehmen sein: z. B.
- Vereinfachung und Förderung von Neubau
- Umwandlung von Gewerberäumen
- Leerstandserfassung/ -analysen
- Ausweitung der Mietpreisbremse
- Zweckentfremdungsvermeidung
- Ausbau des Fachstellenkonzepts sowie von „Kümmerer-Projekten“ im Rahmen der Prävention (inkl. Schaffung datenschutzrechtlicher Klarheit)
- Überarbeitung der Regelungen zu den Kosten der Unterkunft
- Evaluation der Mieterschutzregelungen
aber eben auch
- Bespielung der Schnittstelle zu privaten Vermietern (inkl. Abbau von Diskriminierung von wohnungslosen Menschen am Wohnungsmarkt)
- tragfähige Kooperationsverträge mit Wohnungsbaugesellschaften
- feste Belegungsquoten für Wohnungs- und Obdachlose.
Es werden sowohl der sozial- als auch wohnungspolitische Etat anzusprechen sein. Mit Blick auf die Housing First-Zielgruppe sollten bei der Wohnraumakquise neben Lobbyarbeit auch finanzielle Anreize bzw. Ausgleiche ins Auge gefasst werden. Der Hilfebedarf der Zielgruppe erfordert einerseits einen hohen Kommunikationsaufwand zur Moderation der Beziehungen zwischen Mieter*innen, Vermieter*innen und Nachbarschaft, aber anderseits in vielen Fällen auch überdurchschnittlich hohe Instandhaltungskosten. Deshalb erscheint der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege NRW für die Housing First-Wohnungsakquise die Kooperation mit (städtischen) Wohnungsbaugesellschaften (ggf. mit Quartiersmanagement) zentral. In jedem Fall ist jedoch eine räumliche Abgrenzung und daraus resultierende soziale Ausgrenzung zu vermeiden.
Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen kann der vorliegende Antrag seitens der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege NRW inhaltlich unterstützt werden. Sie begrüßt, dass er den bestehenden, konstruktiven Gesprächsfaden mit dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen zur Thematik „Housing First“ aufgreift und dort erarbeitete Ideen auf den Weg bringen will. Für den Austausch über alle Fragen im Zusammenhang mit Wohnungslosigkeit und den notwendigen Hilfen sollten die vorhandenen Strukturen im Rahmen des Landesprogramms (z. B. Beirat, Begleitgruppe, Themenworkshop) genutzt werden. Für das gesetzte politische Ziel, Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden, braucht es alle Hilfen innerhalb der Wohnungslosenhilfe.
Die Finanzierung von Housing-First-Projekten darf nicht durch Umverteilung der Mittel zu Lasten der bestehenden Angebote der Wohnungslosenhilfe erfolgen. Housing First zielt auf eine kleine Teilzielgruppe unter den wohnungs- bzw. obdachlosen Menschen, die bisher hinsichtlich ihrer speziellen Bedarfe nicht ausreichend versorgt ist und somit zusätzliche Unterstützung benötigt.