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Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen e. V. | Detail

Stellungnahmen der Landesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen (LAG FW NRW) zum Referentenentwurf des Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe-Gesetzes (IKJHG)

Die Landesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen (LAG FW NRW) positioniert sich zum aktuellen Referentenentwurf des Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe-Gesetzes (IKJHG) vom 06.09.2024 wie folgt:

1. Gesamtzuständigkeit und Einführung

Die Landesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen begrüßt die Initiative des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zur Schaffung eines inklusiven Kinder- und Jugendhilfegesetzes (IKJHG). Dieses Gesetz stellt einen bedeutenden Schritt dar, um den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) nach einer inklusiven Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe gerecht zu werden. Die Übertragung der Gesamtzuständigkeit für alle jungen Menschen - ob mit oder ohne Behinderung - ist ein wichtiger Meilenstein und bedarf daher einer klaren und unmissverständlichen gesetzlichen Grundlage.

Der aktuelle Referentenentwurf zeigt in vielen Bereichen noch erhebliche Defizite, insbesondere in Bezug auf die Schnittstellen zwischen den Leistungssystemen (z. B. Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, Pflege, Gesundheit). Wesentliche Fragen zur praktischen Umsetzung sind nicht geklärt und es bleibt offen, wie eine nahtlose Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Systemen erfolgen soll. Es fehlen konkrete Regelungen zur kombinierten Leistungserbringung, wie z. B. zwischen der Hilfe zur Erziehung und der Eingliederungshilfe, die eine bedarfsdeckende Leistungserbringung sicherstellen.

Eine inklusive Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung wird mit dem aktuellen Referentenentwurf nicht verfolgt, womit das IKJHG in dieser Form leider seinem Ruf als reine Verwaltungsreform gerecht wird. Wir vermissen das Ziel der Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung gemäß dem Koalitionsvertrag vom 27.11.2013, sowie die Verbesserung einer inklusiven Leistungserbringung in beiden Leistungstatbeständen.

Wesentlicher Kritikpunkt seitens der LAG FW NRW ist es, dass sich durch den Referentenentwurf in aktueller Fassung für Anbieter von Leistungen der Eingliederungshilfe deutliche Einschränkungen ergeben würden, die die soziale Infrastruktur für Kinder und Jugendliche mit Behinderung nachhaltig gefährden können.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist, dass keine Aussagen zur Finanzierung der Umstellung getroffen werden. Das Gebot der Kostenneutralität darf aus Sicht der LAG FW NRW in keinem Fall zu Leistungseinschränkungen führen, was besonders aufgrund der angespannten finanziellen Lage vieler Kommunen ein erhebliches Risiko darstellt.

Der vorliegende Entwurf muss aus Sicht der LAG FW deutlich nachgebessert werden, um die Anforderungen der UN-BRK vollständig zu erfüllen, eine diskriminierungsfreie Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen sicherzustellen und die Qualität und Kontinuität der bisherigen Versorgungssysteme zu erhalten.

2. Behinderungsbegriff

Die Anpassung des Behinderungsbegriffs an die Vorgaben der UN-BRK wird von der LAG FW AG grundsätzlich begrüßt, da dies den Anspruch junger Menschen auf Teilhabe stärkt. Jedoch bleibt der Begriff der „Wesentlichkeit“ der Teilhabeeinschränkungen problematisch, da er nach Auffassung LAG FW NRW nicht mit der UN-BRK konform ist. Der Verzicht auf Abstufungen hinsichtlich der Teilhabeeinschränkungen ist notwendig, um ein breiteres Verständnis von Behinderung zu befördern und den Zugang zu inklusiven Leistungen zu gewährleisten. Dabei sind sowohl Kinder und Jugendliche mit (drohenden) Behinderungen implementiert als auch der bio-psychosoziale Aspekt (International Classification of Functioning, Disability and Health – Children an Youth - ICF-CY) berücksichtigt.

3. Leistungstatbestände

Die Beibehaltung von zwei Leistungstatbeständen wird unterstützt, um eine Überforderung des öffentlichen Jugendhilfesystems zu verhindern. Die Trennung zwischen der Hilfe zur Erziehung und den Eingliederungshilfeleistungen ist grundsätzlich sinnvoll, um den unterschiedlichen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden.

Die offenen Leistungskataloge ermöglichen eine flexible und bedarfsgerechte Gestaltung der Leistungen. Unerlässlich ist dabei der Verweis auf das SGB IX als Auffangregelung, sodass keine Leistungen wegfallen.

Um ein umfassend inklusives Kinder- und Jugendhilferecht zu gewährleisten, sollte langfristig eine Zusammenführung der Leistungstatbestände in den Blick genommen werden. Hierzu ist eine regelmäßige Evaluation der Umsetzung unerlässlich, die eine zielgerichtete Weiterentwicklung des IKJHG ermöglicht.

Bis zu diesem Zeitpunkt sind Übergangs- und Auffangregelungen erforderlich, um eine bedarfsgerechte soziale Infrastruktur nicht zu gefährden.

4. Anspruchsinhaberschaft

Die Anerkennung von Kindern und Jugendlichen als Anspruchsinhaber im Bereich der Eingliederungshilfe wird durch die LAG FW NRW befürwortet und entspricht der UN BRK. Im Bereich der Hilfe zur Erziehung wird durch den Referentenentwurf für Jugendliche ein eigener Anspruch auf Hilfe zur Erziehung außerhalb des Elternhauses eingeführt. Dies ist im Sinne der Stärkung von Kinderrechten positiv zu begrüßen, wäre allerdings auch für Leistungen innerhalb des Elternhauses wünschenswert.

Neben dem formalen Anspruch auf Leistungen nach dem IKJHG fehlen Regelungen, die sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche ihre Ansprüche auch niedrigschwellig geltend machen können. Neben behinderungsbedingten Barrieren sind hierbei auch die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen mit herkunftsbedingten Sprachhemmnissen zu berücksichtigen.

5. Verfahrenslotsen

Die langfristige Etablierung von Verfahrenslotsen und die Ausweitung ihrer Zuständigkeit auf alle Teilhabeleistungen gemäß § 4 SGB IX werden begrüßt, da dies die Zugangsmöglichkeiten für Leistungsberechtigte verbessert.

Allerdings fehlt ein klarer Umriss der Aufgaben eines Verfahrenslotsen. Schon jetzt gibt es voneinander abweichende Tätigkeitsprofile. Die Verfahrenslotsen sind stark auf die Zusammenarbeit mit den örtlichen Trägern der Jugendhilfe fokussiert. Es fehlen detaillierte Angaben zum Aufgabenprofil sowie zu Schnittstellen mit anderen Beratungsstellen, wie der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) oder den beratenden und unterstützenden Diensten (Beratungsstellen für Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige sowie weitere Peer-Beratungsangebote). Die Rolle der Verfahrenslotsen in der Jugendhilfeplanung muss klar definiert und mit ausreichenden Ressourcen hinterlegt werden. Durch die Verstetigung des Einsatzes der Verfahrenslotsen darf es zu keiner Finanzierungslücke kommen, die in der Folge zu einem eingeschränkten Leistungsangebot für die Leistungsberechtigten führt.

6. Leistungserbringung

Ein zentraler Kritikpunkt am aktuell vorliegenden Referentenentwurf ist die erhebliche Schlechterstellung der Leistungserbringer der Eingliederungshilfe. Die Übernahme bestehender Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen nach SGB IX ist unerlässlich, da sie die Kontinuität der Versorgung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung sicherstellt.

Der Referentenentwurf enthält jedoch keine langfristigen Regelungen zur Sicherstellung der bisherigen Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen. Es fehlt ein klarer Rechtsanspruch auf den Abschluss von schriftlichen Vereinbarungen für alle Leistungen der Eingliederungshilfe.

Besonders kritisch ist das Fehlen einer gesetzlichen Anerkennung der Tarifbindung der Leistungserbringer, wie sie bisher im SGB IX verankert ist. Ebenso fehlt ein unmittelbarer Zahlungsanspruch, was die Position der Leistungserbringer deutlich schwächt. Darüber hinaus wird die Schiedsstellenfähigkeit für ambulante Leistungen nicht übernommen, was als inakzeptabel angesehen wird. Diese Regelungslücken gefährden nicht nur die Rechte der Leistungserbringer, sondern können auch zu einer Verschlechterung der Versorgungsqualität für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen führen.

Die im SGB IX verankerten Qualitätsmerkmale der Eingliederungshilfe (z.B. interdisziplinäre Leistungserbringung und Fähigkeit zur Kommunikation mit den Leistungsberechtigten in einer für diese wahrnehmbaren Form) werden ebenfalls nicht übernommen, was eine weitere Qualitätsentwicklung der Leistungen nach §§ 35 a bis i gefährdet. Es werden auch keine Geeignetheitsanforderungen aus dem SGB IX ins SGB VIII übertragen, die eine bedarfsgerechte Leistungserbringung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung sicherstellen.

Die inklusive Ausrichtung der öffentlichen Jugendhilfe wird im Entwurf nicht aufgegriffen, und es fehlen klare Angaben zur Leistungsentwicklung, insbesondere zur zeitlichen Staffelung der Maßnahmen.

Zu Umsetzungsproblemen wird aller Voraussicht nach auch die fehlende Konkretisierung der Begriffe „inklusive Ausrichtung“ und „Barrierefreiheit“ führen. Aus Sicht der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung muss Barrierefreiheit über bauliche Maßnahmen hinausgehen und z.B. Leichte Sprache und Gebärdensprachdolmetscher*innen, Hörschleifen, visuelle Hilfsmittel in den Gebäuden etc. umfassen. Offen bleibt die Frage der Finanzierung von Maßnahmen zur Barrierefreiheit der öffentlichen und freien Jugendhilfe.

Für Neubauten sollte zukünftig eine barrierefreie Bauweise auch in der Kinder- und Jugendhilfe selbstverständlich sein, für bestehende Angebote bedarf es einer Regelung nach welchen Maßgaben diese Angebote barrierefrei umgestaltet werden müssen. Eine zeitliche Staffelung ist wünschenswert.

7. Kostenheranziehung

Die Angleichung der Regelungen zur Kostenheranziehung für alle Leistungsberechtigten und der Verzicht auf Kostenheranziehung bei ambulanten Leistungen werden begrüßt. Die künftige Kostenheranziehung der Eltern volljähriger Kinder mit Behinderung, die Kindergeld beziehen, stellt jedoch eine Verschlechterung für diesen Personenkreis dar.

Ebenso werden Eltern, deren Kinder mit Behinderung in stationären Angeboten wohnen, zukünftig benachteiligt. Die Berechnung des Kostenbeitrages mit Hilfe des jeweiligen Einkommens ist intransparent und wird voraussichtlich höher ausfallen als die bisherige häusliche Ersparnis. Insbesondere Eltern, deren Kinder mit Behinderung wochentags in einem Internat und am Wochenende zu Hause leben, werden benachteiligt.

Durch das inklusive Kinder- und Jugendhilfegesetz darf es für keine Personengruppen zu einer finanziellen Benachteiligung kommen.

8. Länderöffnungsklausel

Die Länderöffnungsklausel soll Ländern mit spezifischen Verwaltungsstrukturen ermöglichen, schrittweise Anpassungen vornehmen. Dies muss aus Sicht der LAG FW in NRW je nach Leistungstatbestand unterschiedlich bewertet werden. Im Leistungstatbestand der Frühförderung kann die Länderöffnungsklausel eine Beibehaltung etablierter Strukturen ermöglichen und dadurch eine flächendeckende Versorgung bei gleichen Qualitätsstandards gewährleisten. Im Bereich des Pflegekinderwesens hingegen wird die Anwendung der Länderöffnungsklausel kritisch gesehen, da die bisherigen Strukturen eine bedarfsgerechte und sozialraumorientierte Bedarfsdeckung erschweren.

In jedem Fall muss gewährleistet werden, dass keine regionalen Unterschiede entstehen, die die Qualität oder den Zugang zu Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen negativ beeinflussen.

Die Verpflichtung der Leistungsträger zur ortsnahen Beratung und Kooperation wird positiv bewertet. Diese Regelung trägt den unterschiedlichen regionalen Gegebenheiten Rechnung und erleichtert den Zugang zu Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen.

9. Kostenneutralität und Mehrkostenaufwand

Die im Referentenentwurf dargestellten Mehrkosten sind aus Sicht der LAG FW NRW nur unzureichend erläutert. Die notwendige Finanzierung zusätzlicher Ausgaben, die durch die Herstellung von Barrierefreiheit und die Umsetzung inklusiver Maßnahmen entstehen, wird nicht klar thematisiert. Insbesondere fehlen explizite Angaben zu den Kosten, die für bauliche Maßnahmen zur Barrierefreiheit und die Ausweitung von Leistungen (z.B. Verfahrenslotsen) entstehen. Zudem sind Personalmehrkosten, die im Rahmen einer interdisziplinären, inklusiven Leistungserbringung (insbesondere im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe) unvermeidbar, allerdings sind diese im Referentenentwurf nicht berücksichtigt.

Die LAG FW NRW weist nachdrücklich darauf hin, dass die angespannte Haushaltslage der Kommunen sowie die unzureichende Berücksichtigung der finanziellen Auswirkungen auf die Leistungserbringer zu einer Gefährdung der praktischen Umsetzung führen können. Vor allem für die Leistungserbringer der Eingliederungshilfe stellt der Entwurf eine deutliche Verschlechterung dar. Es gibt keine ausreichenden gesetzlichen Vorgaben, die sicherstellen, dass die finanzielle Last nicht einseitig auf die Leistungsträger abgewälzt wird.

Die Umsetzung der geforderten inklusiven Kinder- und Jugendhilfe wird nur dann erfolgreich sein, wenn die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Der Mangel an klaren und verbindlichen Regelungen zur Finanzierung der Umstellung könnte dazu führen, dass Leistungskürzungen bei den betroffenen Trägern und Kommunen unausweichlich werden, was wiederum zulasten der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen gehen würde.

10. Änderungen des SGB VIII im Einzelnen

  • § 5 Wunsch- und Wahlrecht

Im § 104 SGB IX Abs. 3 wurde im Zuge des BTHG der Vorbehalt einer Zumutbarkeit im Rahmen eines Kostenvergleichs festgelegt. In der Umsetzungspraxis führt dies zur Stärkung des Wunsch- und Wahlrechtes der Leistungsberechtigten.

Die isolierte Übernahme des Absatzes aus dem SGB IX ohne den Gesamtbezug könnte entgegen der ursprünglichen Zielsetzung in der Praxis der Jugendhilfe zu einer übermäßigen Fokussierung auf Kostenfragen führen. Durch eine Anpassung des Wortlautes muss sichergestellt werden, dass bedarfsgerechte Leistungen nach den Wünschen der Leistungsberechtigten im Vordergrund stehen und nicht primär kostengünstigere Lösungen gewählt werden müssen.

  • § 27 Leistungen zur Entwicklung, Erziehung und Teilhabe

Die Ausdifferenzierung zwischen den Leistungen zur Erziehung, Entwicklung und Teilhabe wird grundsätzlich unterstützt.

Die Begriffe bleiben jedoch unscharf und die Definition von Leistungen zur Entwicklung bleibt offen. Die Ziele der Eingliederungshilfe sind zudem nicht explizit als eigenständiger Leistungsbereich benannt. Teilhabe muss als eigenständiges Ziel, unabhängig von Erziehung und Entwicklung berücksichtigt und mit Leistungen hinterlegt werden. Eine Einschränkung des Rechtsanspruchs der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung ist zu befürchten.

  • § 34 Betreute Wohnformen

Wir begrüßen ausdrücklich die Löschung des Begriffs “Heim”.

  • § 35a Leistungen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderung

Die Erweiterung des Behinderungsbegriffs wird begrüßt.

Es fehlen gesonderte Regelungen an wichtigen Schnittstellen, z.B. zur Pflegeversicherung und Heilmittelerbringung (SGB V-Leistungen). Kinder mit umfassenden Pflegebedarfen könnten aufgrund des Vorrangs der Pflege keinen Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten, da die Regelung des § 103 SGB IX nicht übernommen wurde.

Die Ziele der Eingliederungshilfe dürfen nicht am Verselbständigungsziel aus der Kinder- und Jugendhilfe gemessen werden. Das Ziel in der Kinder- und Jugendhilfe ist die Verselbständigung; das Ziel in der Eingliederungshilfe ist die Teilhabe.

  • § 35c Früherkennung und Frühförderung

Im Bereich der Früherkennung und Frühförderung wird für NRW eine Auflösung der etablierten Strukturen kritisch gesehen. Die Früherkennung von Behinderungen und bedarfsgerechte Förderung von Kindern ist der Grundstein einer positiven Entwicklung und darf in keinem Fall von der jeweiligen Haushaltslage einer Kommune abhängig sein.

Ein niedrigschwelliger Zugang zu Leistungen der Früherkennung und -förderung muss flächendeckend gewährleistet bleiben.

  • § 35f Leistungen zur Sozialen Teilhabe

Unter Absatz 2 werden explizit Leistungen für Wohnraum benannt. Dies ist unverständlich, da das System der Kinder- und Jugendhilfe grundsätzlich keine Trennung von Existenz- und Betreuungsleistungen vornimmt und auch in Zukunft keinesfalls vorsehen sollte.

  • § 36 Grundsätze der Hilfe- und Leistungsplanung

Die stärkere Betonung von Partizipation, Transparenz und Kooperation innerhalb der Hilfe- und Teilhabeplanung ist zu begrüßen. Die Dokumentation der Wünsche der Leistungsberechtigten ist dabei ein positiver Schritt in Richtung Teilhabe. Allerdings fehlt hier der Hinweis, dass der Leistungsberechtigte auch den Leistungserbringer zu Hilfe- und Leistungsplanung auf seinen Wunsch hinzuziehen kann.

Neben dem Ziel der Verselbständigung muss auch das Ziel der Teilhabe als Grundsatz der Hilfe- und Leistungsplanung aufgenommen werden.

Eine gemeinsame Hilfeplanung / ganzheitliche Teilhabeplanung für kombinierte Leistungen aus Eingliederungshilfe und Jugendhilfe ist nicht vorgesehen, und es fehlt auch hier ein Ausblick auf die inklusive Weiterentwicklung des Verfahrens.

  • § 36a Hilfe- und Leistungsplan

Die Beteiligung der Leistungserbringer und der zeitliche Spielraum für Überprüfungen wird begrüßt. Erfahrungsgemäß sind die Hilfeverläufe im Bereich EGH und Jugendhilfe hinsichtlich ihrer Zielerreichung unterschiedlich zu betrachten. Die unterschiedlichen Begrifflichkeiten der Eingliederungshilfe und der Kinder- und Jugendhilfe werden hier nicht aufgelöst. Die Benennung einer maximalen Frist von zwei Jahren bei der Überprüfung des Hilfe- und Leistungsplans könnte in der Praxis dazu führen, dass dieser Zeitraum maximal ausgenutzt wird. Bisher gibt es im SGB VIII keine festgelegten Zeiträume für eine Hilfeüberprüfung, die gelebte Praxis in der bisherigen Kinder- und Jugendhilfe zeigt aber deutlich kürzere Zeitspannen. Es fehlen Erläuterungen zur Orientierung der Überprüfungszeiträume an den formulierten Zielen und der individuellen Entwicklung im Einzelfall. Zudem fehlt ein Recht auf Fortschreibung des Hilfe- und Leistungsplans bei wesentlichen Änderungen für die Leistungsberechtigten.

Klarzustellen ist außerdem, dass die Überprüfung des Hilfe- und Leistungsplans unabhängig von dem Bewilligungszeitraum der Leistung zu betrachten ist.

Die Hilfe- und Leistungsplanung darf nicht als reiner Verwaltungsakt betrachtet werden. Für Leistungsberechtigte besteht ein Anspruch auf ein Verfahren, dass die Gegebenheiten des Einzelfalls angemessen berücksichtigt. Für eine bedarfsgerechte Hilfe- und Leistungsplanung bedarf es Fachkräfte, die entsprechende Kenntnisse über die jeweiligen Tatbestände besitzen.

  • § 36b Hilfe- und Leistungsplankonferenz

Die Regelung zur Hilfe- und Leistungsplankonferenz als „kann“-Bestimmung bedeutet, dass es kein Recht des Leistungsberechtigten auf eine solche Konferenz gibt und über eine Leistungsgewährung auch ausschließlich auf Aktenlage entschieden werden kann. Das Recht, Hilfe- und Leistungsplankonferenzen einzufordern, muss für die Leistungsberechtigten klar formuliert werden.

Die Leistungserbringer sind explizit als Teilnehmer vorzusehen, um ihr Recht auf Beteiligung im Hilfe- und Leistungsplanverfahren zu konkretisieren.

  • § 36d Zusammenarbeit bei Zuständigkeitsübergang

Die Übernahme der Altersgrenzen aus dem SGB VIII zur Regelung des Zuständigkeitsübergangs sorgt für Klarheit bei den Übergängen.

  • § 38a Bedarfsfeststellung bei Leistungen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen

Die erleichterten Zugangsvoraussetzungen und Ermessensspielräume der Leistungsträger werden begrüßt. Allerdings bleiben die Begrifflichkeiten unkonkret, was zu Unsicherheiten in der Praxis führen kann, z.B. bei der Definition von „vergleichbaren ärztlichen Bescheinigungen“.

  • § 38b Instrumente der Bedarfsermittlung bei Leistungen der Eingliederungshilfe für Kinder- und Jugendliche mit Behinderungen

Die Übernahme der ICF-CY als Instrument zur Bedarfsermittlung wird unterstützt. Allerdings fehlt es im Bereich der öffentlichen und freien Jugendhilfe an Praxiserfahrung, und es besteht ein erheblicher, zu refinanzierender, Schulungsbedarf, um eine flächendeckende Anwendung sicherzustellen.

  • § 74 Subventionsfinanzierung

Bei der Subventionsfinanzierung ist eine inklusive Ausrichtung von Leistungsangeboten künftig ein Entscheidungsmerkmal. Dies könnte zum Nachteil für spezialisierte, auf besondere Teilhabe- oder Kinder- und Jugendhilfebedarfe ausgerichtete Dienste werden, für deren Leistungserbringung eine vollumfängliche inklusive Ausrichtung nicht sachgerecht ist. Hier sollten Ausnahmeregelungen formuliert werden, damit alle Kinder und Jugendlichen partizipieren können.

  • § 75 Anerkennung als freier Träger

Die Erweiterung der Anerkennung als freier Träger der Jugendhilfe auf Dienste der Eingliederungshilfe ist folgerichtig und sollte im Rahmen der Übergangsregelungen für bestehende Dienste und Einrichtungen niedrigschwellig gestaltet werden.

  • § 78a Anwendungsbereich §§ 78b bis 78g

Die Regelungen gelten nur für (teil)stationäre Leistungen, was massive Auswirkungen auf die Leistungserbringung hat (siehe oben unter „Leistungserbringung“).

  • § 87c Örtliche Zuständigkeit für die Beistandschaft, Pflegschaft, Vormundschaft und schriftliche Auskunft nach § 58

Die Berücksichtigung von Kindeswohl und Kindeswille in diesen Regelungen wird begrüßt.

  • § 91-94 Kostenbeiträge

Siehe Punkt 7 “Kostenheranziehung”

  • § 109 Übergangsregelungen

Die Übernahme bestehender Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen nach SGB IX bis 2032 wird begrüßt, ebenso die Weitergeltung der Bewilligungsbescheide. In den Übergangsregelungen ist festgelegt, dass für Leistungsberechtigte eine höhere Kostenbeteiligung als bisher ausgeschlossen wird. Dieser Sachverhalt ist vor dem Hintergrund einer Schlechterstellung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung bzw. deren Familien im Gesetz jedoch grundsätzlich zu verankern und nicht nur als Übergangsregelung festzulegen.

Fazit

Die LAG FW NRW begrüßt den grundsätzlichen Ansatz des Referentenentwurfs, sieht jedoch erheblichen Nachbesserungsbedarf in folgenden Bereichen:

  • Klare Schnittstellenregelungen: Die Leistungserbringung an den Schnittstellen von Jugendhilfe, Eingliederungshilfe und Gesundheitssystem muss transparent geregelt werden, um eine lückenlose Versorgung sicherzustellen.
  • Verbindliche Qualitätsstandards und ausreichende Finanzierung: Die Finanzierung der Maßnahmen zur Barrierefreiheit sowie die Sicherung der Qualitätsstandards in der Leistungserbringung nach §§ 35 a bis i müssen im Gesetz festgeschrieben werden.
  • Überarbeitung der Kostenheranziehung: Die geplanten Änderungen zur Kostenheranziehung dürfen nicht zu einer finanziellen Benachteiligung von Eltern volljähriger Kinder mit Behinderung führen.
  • Sicherstellung der Rechte der Leistungserbringer: Es müssen verbindliche Regelungen zur Tarifbindung und zu schriftlichen Vereinbarungen für alle Leistungen geschaffen werden. Die Schiedsstellenfähigkeit für ambulante Leistungen muss gesetzlich verankert werden.
  • Evaluation und Weiterentwicklung der Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe: Eine langfristige, systematische Weiterentwicklung der Leistungen und eine klare Sicherung der Rechtsansprüche von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen müssen gewährleistet werden. Die inklusive Weiterentwicklung des Gesetzes muss auch langfristig konsequent verfolgt werden. Hierzu sind eindeutige Meilensteine und eine klare Langzeitplanung für die Umsetzung inklusiver Maßnahmen erforderlich. Grundlage der Weiterentwicklung muss eine fundierte Evaluation sein, die nicht nur die strukturellen Gegebenheiten und Kostenfragen in den Blick nimmt.

Nur durch die Umsetzung dieser Forderungen kann eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe gewährleistet werden, die den Anforderungen der UN-BRK und den Bedürfnissen junger Menschen mit Behinderungen gerecht wird.